12. Dezember 2021: Orange Tie - Holger Bengs
Ich möchte Ihnen ein Lachen schenken
Ach was, dachte ich. Was soll ich Ihnen sagen, dass ich Chemiker bin und mit meinem Team in meiner Firma, BCNP Consultants GmbH, seit 2002 erfolgreich Startups, Mittelständler und Großunternehmen berate, das European Chemistry Partnering erfunden habe, und Kurse über gutes Netzwerken gebe.
Ich schenke Ihnen persönlich meine Weihnachtsgeschichte und würde mich freuen, wenn ich Ihnen damit ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern könnte. Die Geschichte ist vor einem Jahr im Zug, also während des Lockdowns entstanden als ich meine Mutter von Hannover nach München zum Weihnachtsfest holte. Sie heißt übrigens Eleonore, und Erwin war mein Vater. Nur Willi hieß Heiko.
Meine Weihnachtsgeschichte für Sie!
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Holger Bengs
https://www.linkedin.com/in/theguywiththeorangetie/
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Willi wird wichtig
Etwas musste Willi an sich haben, denn, ohne dass er etwas wirklich Böses getan hatte, mochte ihn in dem Haus niemand.
Willi beschwerte sich nicht, wenn einer im Haus bei seiner Geburtstagsfeier spät am Abend noch einmal lauter war als es die Hausordnung zuließ. Willi klingelte auch nicht beim Nachbarn, nur weil die Fußmatte vor dem Eingang der Wohnung seit einer Woche nicht mehr ausgeschüttelt wurde, oder weil die Pappkartons direkt in die Altpapiertonne gestoßen wurden, anstatt diese vorher vorschriftsgemäß zu zerkleinern. Auch lehnte Willi nicht vornüber auf einem Kissen am Fenster, um draußen zu beobachten, wer vielleicht sein Fahrrad unerlaubt an die Hauswand lehnte oder vor dem Haus falsch einparkte. All das ging an Willi vorbei. Selbst die Patchwork-Familie im vierten Stock interessierte ihn nicht, wie sie ihr Leben lebte.
Nur in einem Punkt konnte Willi wütend werden: wenn ihn jemand um seinen, wie Willi fand, wohlverdienten Mittagsschlaf brachte. Dann wurde Willi nachtragend. Die in der Hausordnung niedergeschriebene Ruhezeit von dreizehn bis fünfzehn Uhr war Willi heilig. Wenn dann jemand zu laut an seiner Wohnungseingangstür vorbeikam, dann wurde Willi heftig. Mögen die anderen vielleicht in ihm nur einen nicht so wichtigen Hausbewohner sehen, wer weiß dies schon genau, jedenfalls würdigte in all den Jahren niemand die Mittagsruhe und so passierte es regelmäßig jeden Tag, dass die Geräusche und das laute Sprechen im Hausflur, Willi, gerade dass er eingeschlafen war, aufweckte.
Willi hörte einfach alles. Sein Schlafplatz war genau neben der Wohnungstür, und wie es sich für einen Klassehund gehört, sprang er sofort auf, direkt zur Tür, um von dort den Störenfried laut und gewissenhaft weg zu bellen. Und in den Fällen, wo Frauchen oder Herrchen die Haustür öffneten, weil sie dachten, es könnte der Paketbote sein, sprang Willi auch schon nach draußen und zwickte die Krawallmacher. Zumindest erschreckte er sie alle sehr ordentlich, so wie es sich für einen gut ausgebildeten Jagdhund gehört. Es ist in all den Jahren nicht wirklich etwas Dramatisches passiert, denn entweder war der Störenfried nach dem ersten Schrecken schnell außerhalb Willis Reichweite gesprungen oder Herrchen oder Frauchen pfiff und ein guter Jagdhund hört dann natürlich. Nur ein- oder vielleicht zweimal in all den Jahren musste ein Rock oder eine Hose daran glauben.
Die Zeiten änderten sich nahezu schlagartig in der Pandemie des Jahres 2020. Es geschah in der Ausgangssperre vor Weihnachten.
Das friedliche Fest der Feste in Deutschland brachte die Wende. Die Änderung fand dabei ihren Grund nicht allein darin, dass die Menschen zu Weihnachten friedlicher und zugänglicher wurden. Denn dann wäre das letzte Weihnachten wie das Weihnachten davor und das Weihnachten davor schon ein Besonderes gewesen.
Weihnachten 2020 war so besonders, weil alle in Deutschland aussetzen mussten. Erst morgens nach fünf Uhr durfte man auf die Straße. Aber nur bis es Abend wurde, denn wenn es tiefe Nacht war, nach einundzwanzig Uhr mussten die Menschen auch wieder in ihren Wohnungen und Häusern bleiben. Von dieser Regelung gab es nur eine Ausnahme: wer einen Dackel wie Willi hat, der darf auch nach neun Uhr abends auf die Straße. Denn Hunde haben ihre Bedürfnisse und sie gehen weder auf ein Menschen- noch auf ein Katzenklo.
Das Telefon klingelte. Es war der Tag vor Heiligabend.
„Du, Erwin“, sagte Eleonore während sie das Mikrofon mit der einen Hand zuhielt, „die Müllers aus dem dritten Stock rufen an und fragen, ob Willi schon draußen war?“
Eleonore und Erwin liebten ihren Willi. Sie verstanden Willi und seinen ausgeprägten Willen Mittagsschlaf zu halten, nur zu gut. Willi war eine treue Seele, der auch gern half die Tüte mit den Brötchen samstäglich nach Hause zu tragen, zwei Brötchen, denn die restlichen trug Erwin, damit Willis Tüte nicht auf dem Boden schleifte. Sie fanden aber auch die Nachbarn immer sehr freundlich und hilfsbereit, und so kam es, dass Willi an diesem Abend ein zweites Mal Gassi ging, da Herr Müller aus dem dritten Stock noch einmal frische Luft nach seinem letzten langen Arbeitstag zuhause im Heimbüro vor Weihnachten brauchte. Denn mit einem Hund durfte Herr Müller auch nach neun Uhr abends nach draußen, ohne Angst haben zu müssen, dass die Polizei unangenehme Fragen stellen oder Herrn Müller sogar eine Strafe aufbrummen würde.
So sprach es sich rund um die Festtage zwischen den Jahren schnell herum: auf Willi ist Verlass. Denn Willi ist gern draußen, egal wie hell oder dunkel, wie trocken oder feucht das Wetter ist. An der frischen Luft ist Willi in seinem Element. Probleme gab es keine. Warum auch? Nach einundzwanzig Uhr hält ein Dackel doch keinen Mittagsschlaf mehr. Und so freute sich Willi der Weihnachtstage im Jahr der großen Pandemie abends über jedes Klopfen an der Tür und jedes Telefonklingeln. Freundlich mit dem Schwanz wedelnd ging er mit den Nachbarn mit: bald kannte er alle Bewohner sehr gut in dem Haus und alle Bewohner im Haus lernten nun Willi von seiner besten Seite kennen. Sie freuten sich über den freundlichen Willi, der ihnen zu ein paar zusätzlichen Minuten außerhalb des Mietshauses an der frischen Luft verhalf, als Deutschland zum Jahreswechsel nachts abgeschlossen war.
„Meinst Du nicht, Eleonore, dass Willi zu viel Bewegung bekommt? So viel Kalorien wie er im Moment verbraucht, soviel Futter bekommt er doch gar nicht. Er sieht doch schon ganz abgemagert aus“, sagte Erwin nach einigen Tagen kurz vor Silvester.
„Ach“, sagte Eleonore, „da mach Dir mal keine Sorgen“, und sie zeigte ihm die große Kiste mit den vielen Leckerlis, die Willi von den Nachbarn geschenkt bekommen hatte: „Schau, und das ist nur der Teil, den Willi noch nicht gefressen hat.“
Willi konnte noch viele Hunde- und Menschenjahre genießen. Und er tat dies in bester Gesundheit – trotz Leckerlis –, weil er sich nicht mehr um seine Ruhe sorgen musste. Die Bewohner hatten verstanden und alle wussten nun, was sie an Willi haben. Seit jenem Weihnachtsfest hat niemand mehr Willis erholsamen Mittagsschlaf gestört.